P. Puchalski: Poland in a Colonial World Order

Titel
Poland in a Colonial World Order. Adjustments and Aspirations, 1918–1939


Autor(en)
Puchalski, Piotr
Reihe
Routledge Histories of Central and Eastern Europe
Erschienen
London 2021: Routledge
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 159,95
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Justyna Aniceta Turkowska, Universität Bielefeld

Trotz des aktuellen Aufrufs zu einer (selbst-)kritischen „Dekolonialisierung“1 der Forschung zum östlichen Europa und einiger wegweisender Beiträge2 sind Untersuchungen zum Kolonialismus polnischer bzw. osteuropäischer Provenienz immer noch rar. In den letzten zwanzig Jahren wurde zwar die koloniale Konstruktion osteuropäischer Räume und ihre doppelte koloniale Kodierung – als Teile der kolonialisierenden Machtgefüge und als zu kolonialisierende Regionen – durchaus diskutiert.3 Allerdings richtete sich das Interesse bislang in erster Linie auf die Zwischenkriegszeit und kam eher in empirischer als theoretisch-methodischer Beschäftigung mit der „eigenen“ kolonialen Verflechtungsgeschichte zum Ausdruck. In diesen Trend schreibt sich auch Piotr Puchalski ein und legt eine umfangreiche, gut lesbare und empirisch gesättigte Darstellung der polnischen Kolonialpolitik von 1918 bis 1939 vor. Im Fokus stehen die kolonialen Ansprüche Polens, vor allem Richtung Afrika und Südamerika, und die damit einhergehenden Versuche, durch die Teilnahme an diversen Projekten in den Rang kolonialer Imperien aufgenommen zu werden. Die Kolonialpolitik schildert Puchalski somit als außenpolitische Reaktion auf eine in dieser Zeit neu verhandelte Weltordnung, die nur in ihrer Wechselwirkung zwischen – ihrerseits kolonial geprägten – innenpolitischen Faktoren und der „großen“ internationalen Politik verstanden werden könne (S. 7–8).

Die Studie ist chronologisch organisiert und als eine politische Geschichte offizieller, halboffizieller und informeller polnischer Bemühungen zu lesen, internationale Anerkennung als moderne Nation und gleichberechtigter global player zu erlangen. Im Zentrum stehen vor allem personelle und institutionelle Netzwerke der Verfechter polnischer Kolonialpolitik, darunter Staatsmänner wie der Landwirtschaftsminister Jozef Raczyński, (selbsternannte) Kolonialexperten wie Apoloniusz Zarychta (Geograph und Befürworter der polnischen Emigration nach Südamerika), Siedler wie Michał Zamoyski (Landbesitzer und Kaffeeproduzent in Brasilien und später Angola) sowie Kolonialpioniere aus den Kreisen des See- und Kolonialbundes (polnisch: Liga Morska i Kolonialna – LMiK) wie Kazimierz Głuchowski. Dank der dichten Beschreibung der einzelnen Initiativen werden die engen Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und gesellschaftlicher Agitation deutlich, auch wenn die Detailfülle den Lesefluss mitunter erschwert und die Sprecherposition einzelner Akteure nicht immer ganz deutlich wird.

Den Anfang macht die Darstellung polnischer Emigration nach Südamerika in den Jahren 1918–1932. In ihrer Zielsetzung – der Schaffung von Räumen wirtschaftlicher und kultureller Eigenständigkeit in Übersee – und Organisation (durch die Polnische Kolonialgesellschaft [poln. Polskie Towarzystwo Kolonialne] als Nachfolger der 1907/8 gegründeten Polnischen Auswanderungsgesellschaft [poln. Polskie Towarzystwo Emigracyjne]) knüpfte sie direkt an die Emigrationswelle des späten 19. Jahrhunderts und die Idee der ersten polnischen „Siedlerkolonie“ in Paraña an. Ebenso wie diese träumte die Zwischenkriegsemigration nach Peru und Brasilien von einem eigenen Platz unter der Sonne, war vor allem als landwirtschaftliches Projekt angelegt und sollte zum Aushängeschild der polnischen Nation im Ausland werden. Insbesondere nach der Machtübernahme der Sanacja 1926 wurde Migration zu einem wichtigen Instrument der Außen- wie auch der einheimischen Bevölkerungspolitik. So stellten die Siedlerkolonien für den polnischen Staat nicht nur den Dreh- und Angelpunkt ihrer Teilnahme am globalen Finanzkapitalismus, sondern auch einen Lösungsansatz für das prognostizierte rapide Bevölkerungswachstum dar, das es nun mithilfe von gezielter Migration zu lenken galt. Das koloniale Engagement, das sich in den späten 1920er-Jahren schließlich hin zum afrikanischen Kontinent (Madagaskar, Kamerun, Angola, Liberia) verschob, wurde als natürliche Folge des maritimen Aufstiegs Polens betrachtet und von politischen Eliten als moralisches Mandat des postimperialen Polens legitimiert (S. 53–76).

Diese doppelte Zielsetzung der Kolonialprojekte war auch bei den meisten individuell vorangetriebenen Siedlerprojekten (nicht Siederkolonien) sichtbar: Wie Boa Serra von Michał Zamoyski in Angola waren sie primär als marktwirtschaftlich orientierte Farmen konzipiert und nutzten den kolonialen Raum gezielt, um etwa den hohen europäischen Steuern zu entkommen und von der Ausbeutung der einheimischen afrikanischen Arbeitskräfte zu profitieren. Ihr Tun legitimierten sie mit dem konservativ-nationalistischen Wunsch, die europäischen Werte vom „moralischen Verfall“ zu retten und das prachtvolle Polen stückweise, wenn auch auf dem afrikanischen Boden, zu bewahren (S. 89–93). Hinter dieser kolonialen Rhetorik verbarg sich die Überzeugung, die polnischen Siedlerinitiativen seien fairer und weniger unterdrückend als die anderen Kolonialisierungsformen, weil sie anstelle des „alten“ rassialisierenden (deutschen) Ausbeutungssystems ein freundliches Protektorat bieten. Als allerdings gegen 1933 die Idee der europäischen Hegemonie in Afrika zu scheitern und die polnischen kolonialen Projekte in Angola zu kippen drohten, wandte sich die LMiK, die zuvor diese Rhetorik unterstützt hatte, von dieser nun als anachronisch angesehenen Kolonialstrategie ab und antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen zu. Angesichts der geänderten geopolitischen Situation der 1930er-Jahre, entwickelten die polnischen Eliten laut Puchalski einen „Prometheus-Kolonialismus“ (S. 109).4 In der Unterstützung der „Black-to Afrika“-Bewegung in Liberia oder äthiopischer Unabhängigkeit erblickten sie eine Chance zur Neuaufstellung als mächtiger Beschützer der Unterdrückten. Diese Rolle sollte dem polnischen Staat politisch wie auch ökonomisch dienen. Je nach politischer und geographischer Lage unterstützten die Befürworter der polnischen Kolonialpolitik also mal den westlichen Imperialismus, mal die einheimischen antikolonialen Unnabhängigskeitsbewegungen.

Neben der nationalen Migrations- und Expansionspolitik war nicht zuletzt das strategische Jonglieren zwischen Weimarer Republik und Sowjetunion von zentraler Bedeutung. Unter der Regierung Józef Becks wurde die „koloniale Frage“ erneut aufgegriffen: Die polnische Regierung schlug jetzt eine „technokratische Wilson’sche Lösung“ (S. 150) vor, die unter anderem eine gemeinsame globale Währung, geteilte koloniale Protektorate und eine Zusammenarbeit in der Frage der jüdischen europäischen Migration und Auswanderung anvisierte. Die „jüdische Frage“ war, so Puchalski, nicht nur durch den polnischen Antisemitismus geprägt, wie es die meisten Studien behaupten. In jedem Fall sei es ein Antisemitismus mit technokratischen Zügen gewesen, der keine ethnische Säuberung im Sinne gehabt habe. Mit der Förderung jüdischer Auswanderung habe sich die Regierung vielmehr eine Erweiterung wirtschaftlicher Interessen und Kontakte mit und innerhalb der kolonialen Welt versprochen. Dahinter stand dem Autor zufolge der stetige polnische Wettlauf um eine Anerkennung der eigenen Modernität – ein Wettlauf, der allerdings auf schiefer Basis ruhte, da er von einer ethnisch homogenen, landwirtschaftlich orientierten, pre-modernen Kolonialisierung träumte, zu Hause aber eine modernisierende Industrialisierung anvisierte.

Die polnische Kolonialpolitik – das zeigt Puchalski sehr überzeugend – war stets durch situative, opportunistische und oftmals widersprüchliche Wünsche geprägt. Puchalskis größtes Verdienst besteht in der sehr detailreichen Darstellung kolonialer Vorstellungen und Visionen sowie der konkreten Aktivitäten individueller wie auch institutioneller Akteure. Er entscheidet sich dafür, sie in den engen Zwängen des europäischen (weniger eines globalen) Internationalismus und Imperialismus zu situieren und nimmt die Kolonial- vorwiegend als Migrations- und Außenpolitik wahr. Hinsichtlich der Verwurzelung kolonialen Gedankengutes im polnischen politischen Diskurs nimmt er hingegen eine zurückhaltende Position ein. So verspielt die Studie leider ein wenig ihr großes Potenzial, die polnischen Kolonialphantasien der Zwischenkriegszeit als mehr als nur eine weniger bekannte Episode der Diplomatiegeschichte zu erzählen. Schade ist dies, weil das Thema der kolonialen Vergangenheit zum Ausgangspunkt einer historisch-kritischen Reflexion über den polnischen „exzeptionellen Rassismus“ und seine politisch-ökonomische Logik hätte werden können. Die unterdrückende und rassialisierende Dimension der polnischen Kolonialpolitik wird von Puchalski zwar angedeutet, aber als solche zu wenig thematisiert und kontextualisiert.

In der Gesamtschau gelingt dem Autor eine argumentativ schlüssige Studie, auch wenn die Hauptargumente aufgrund der Detailfülle am besten in den einleitenden und zusammenfassenden Teilen der einzelnen Kapitel zu finden sind. Der breite Fokus und die detaillierte Ereignisbeschreibung machen das Buch zudem beinahe zu einem Nachschlagwerk. Weil er seine Studie vor allem empirisch denkt und kaum übergreifende Erklärungsmodelle heranzieht, kann Puchalski allerdings kaum neue Akzente setzen. Er legt aber eine solide und gut lesbare Grundlage für die weitere Beschäftigung mit der polnischen kolonialen Vergangenheit, für koloniale Phantasien und ihren Platz innerhalb der polnischen rassialisierenden Leitkultur vor.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa folgende Initiativen zum Thema ‚Decolonizing Eastern Europe: https://decolonizeee.org/ (19.10.2023); https://zoltanginelli.com/2020/07/03/decolonizing-the-non-colonizers/ (19.10.2023); https://deesproject.org/ (19.10.2023).
2 Vgl. u.a. Milena Skulimowska, Poland’s Colonial Aspirations and the Question of a Mandate over Liberia, 1933-1939, in: The Historical Journal 65 (2022), S. 730–749; Marta Grzechnik, Aspirations of an imperial space. The colonial project of the Maritime and Colonial League in interwar Poland, in: CES Open Forum Series, 17.10.2019; Michał Starczewski, Mrzonki racjonalnej kolonizacji w duchu narodowym. Roman Dmowski i polska emigracja do Brazylii, in: Przegląd Humanistyczny 2 (2015), S. 63–74.
3 Siehe u.a. Kristin Kopp, Germany’s Wild East. Constructing Poland as Colonial Space, Michigan 2012.
4 Der Prometheus-Kolonialismus stand im engen Zusammenhang mit der noch während des Ersten Weltkrieges von Józef Piłsudski initiierten Prometheismus-Bewegung, die durch die gezielte Unterstützung der nationalistischen Unabhängigkeitsinitiativen im Russischen Reich und seinen Nachfolgestaaten die Schwächung bzw.Auflösung der Sowjetunion zum Ziel hatte.

Redaktion
Veröffentlicht am
17.11.2023
Redaktionell betreut durch